Archiv der Zukunft – Kongress vom 31.10. 02.11.2014 in Bregenz

Orte und Horizonte
Bildung braucht Gesellschaft
von Astrid Thaler
„Ach wäre ich doch dabei gewesen…!“ möge man sich spätestens dann denken, wenn man diesen Bericht gelesen hat. Denn ja, wer nicht da war, hat etwas Besonderes versäumt.
Besonders war die Atmosphäre bereits bei der Eröffnung im Festspielhaus, als eine etwa 14 jährige Schülerin ein selbst komponiertes Lied im Stil einer Shakira sang, begleitet von ihrem vermutlich jüngeren Bruder am Piano und fünf Musikern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Gänsehaut. „Und was hat das mit „Bildung braucht Gesellschaft“ zu tun?“, fragen Sie sich jetzt vielleicht?
Ein Zufall führte zu dieser Kooperation, die ihre wahre Bedeutung erst dann bekommt, wenn man die Geschichte dazu kennt. Die Musiker der deutschen Kammerphilharmonie Bremen suchten 2006 einen Saal für Proben und Konzerte. Mitten in einem Bremer Außenstadtteil mit 40 % Hartz IV Empfängern soll zu dieser Zeit ein Teil einer Schule abgerissen werden, falls nicht ein Mieter gefunden wird, der sich an den Sanierungskosten beteiligt. Das Orchester, das zu den Top 10 Orchestern der Welt gehört, erkennt das Potential des Saales, mietet sich ein, und so beginnt die Geschichte. Die Musiker waren einfach da. Jeden Tag. Der 70er Jahre Betonbau in Osterholz-Tenever, der wahrlich nicht zu den einladenden Bildungshäusern zählt, erklingt plötzlich durch Streicher und Bläser. Schulklassen werden zu Proben eingeladen, sitzen aber nicht in den Zuschauerrängen, sondern jedes Kind neben einem Musiker, mitten im Orchester. Das Projekt „Melodie des Lebens“ entsteht, Schülerinnen und Schüler kommen mit ihren Ideen – oder auch als Auszeit – zu den Musikern und bekommen Unterstützung beim Komponieren, Arrangieren und Musizieren. Inzwischen wird jährlich eine Stadtteiloper aufgeführt, bei der 500 Schüler/innen, das Orchester und professionelle Opernsänger/innen mitwirken. Die Auswirkungen: weniger Schulabbrecher, mehr Schulabschlüsse, ein Anstieg des Selbstwertes und der Selbstwirksamkeit der Schüler/innen, eine starke Identifikation mit der Stadt und dem Standort, Entwicklung von persönlichen und sozialen Kompetenzen auf eine natürliche Art.

Das ist nur eine der hunderten Geschichten, die auf dem Bildungskongress an drei Tagen zwischen Nebel, Sonnenschein und Herbstwärme erzählt wird. Und die Erzählerinnen und Erzähler (über 100 Referenten/Workshopleiter) sind bunt und aus verschiedensten Bereichen: Physik, Architektur, Gastronomie, Landwirtschaft, Medizin, Psychologie, Medien, Musik, Neurowissenschaft, Kleinkindbetreuung, Elternarbeit, Oberstufenreform,…
Bei vielen geht es darum, dass Bildung nicht nur in der Schule „passiert“ – die Wissenschaft geht sogar davon aus, dass sich nur 30 % des Gelernten auf die Schulzeit zurückführen lässt – sondern dass Bildungsnetzwerke und besondere Kooperationen erfolgreiche Konzepte für das Lernen bieten. Beispiele dafür sind
•    das „Schlänitzsee-Projekt“ bei Potsdam, wo Kinder und Jugendliche seit sieben Jahren eine Woche im Monat nicht in der Schule sondern auf dem landwirtschaftlichen Gelände im Freien lernen;
•    die „Villa Monte“, eine Schule „ohne Unterricht“
•    die Häuser des Lernens nach dem Vorbild in Romanshorn
•    die Dorfuniversität Dürnau
•    der Campus für lebenslanges Lernen in Osterholz Scharmbeck
•    die Anne-Frank-Realschule in München (Deutscher Schulpreis 2014)
•    das Bahnhofsprojekt Halstenbek/Hamburg
•    das Wunder von Bremen – ein dreiwöchiges Sprachsommercamp mit einem Lernzuwachs bei den Tielnehmer/innen von mehr als einem Schuljahr!
•    das Bildungsnetzwerk der Elbinseln
uvm.
Signalwörter in vielen Diskussionen sind immer wieder „Resonanz“ beim Lernen, Authentizität, Resilienz entwickeln, Scheitern lernen, zukunftsfähig ausgerüstet werden, Paradigmenwechsel vom Lehren zum Lernen, weg vom Bulimielernen, Selbstbestimmung und Wertschätzung fördern…
Was ganz klar wird ist, dass Bildung Gesellschaft braucht, dass Schule ein wahrgenommener, integrierter Teil eines Dorfes, einer Stadt oder Region sein muss und dass dadurch „der Raum als dritter Pädagoge“ eine neue Bedeutung bekommt.
Es wäre eine einmalige Gelegenheit gewesen, all die Ideen, Beispiele, Netzwerke und Geschichten mit all ihren Schlüsselfiguren live zu sehen und sich inspirieren zu lassen. Wo sonst kann man so mutige Visionen, handfeste Projekte und lustvollen Umgang mit Lernen vor der eigenen Haustür erleben?
Leider wurde das Potential dieser Veranstaltung im Vorfeld von zu wenigen erkannt und unter den weit über 1000 Teilnehmer/innen waren nur etwa zwei Hände voll Vorarlberger/innen zu entdecken. Da werden wir wohl noch länger in der eigenen Suppe weiterfischen.

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