Buchbesprechung: Die Angst der Mittelschicht vor der Gesamtschule

Die Angst der Mittelschicht vor der Gesamtschule (Gertrud Nagy)


Buchbesprechung von Andreas Berghold, ZA-BS-Stm


Ein Buch mit diesem Titel musste ich einfach lesen: einerseits, weil ich seit jeher ein Verfechter der gemeinsamen Schule der 10- bis 14-jährigen bin, andererseits, weil die Auseinandersetzung mit der Mittelschicht etwas Abenteuerliches an sich hat, vergleichbar mit der Rettung bedrohter Tierarten! Doch die Autorin stellt gleich im Vorwort klar: „In diesem Buch versuche ich daher einer bildungspolitisch schweigenden Gruppe, der meist bildungsfernen Grund- bzw. Unterschicht eine Stimme zu verleihen – den Schülern und Schülerinnen an den städtischen Hauptschulen und Neuen Mittelschulen sowie deren Eltern.“ Hier stellt sich die Frage ob der Anspruch, für eine Gruppe sprechen zu wollen, der man offenbar nicht zutraut ihre Interessen selbst wahrzunehmen, nicht zwangsläufig in Vereinnahmung und Unterstellung enden muss. Ein Beispiel dazu zum Thema Schulwahl: „Als bildungsferner Elternteil durchschaue ich diesen starren Mechanismus ohnedies nicht und wähle eben die nächstgelegene Pflichtschule, ob sie nun Hauptschule oder Neue Mittelschule heißt.“ Das mag ja auf viele solche Elternhäuser zutreffen, aber das heißt nicht, dass diese Eltern sich nicht auch den Kopf darüber zerbrechen, was das Beste für ihre Kinder sei – sie setzen möglicherweise nur andere Prioritäten. Und trifft der damit suggerierte Umkehrschluss zu, dass die Mittelschicht-Eltern die Motive für die Schulwahl ihrer Sprösslinge eingehend reflektieren? Viele von ihnen haben wohl nur eines im Sinn: im neoliberalen Hamsterrad schneller zu sein, als die Nachbarn und diese Haltung  wollen sie auch ihren Kindern vermitteln, „damit es ihnen einmal besser geht“! Und das ist wohl ähnlich unreflektiert, wie die Auswahl der Schule nach dem bequemsten Schulweg.
„Der richtige Zeitpunkt für eine echte Gesamtschule, so meine These, ist offensichtlich vorbei“, stellt die Autorin fest und meint weiter, dass die Umbenennung der Hauptschulen in NMS wohl den Gipfel des Erreichbaren darstelle, vielleicht noch getoppt durch eine „neue Lernkultur“. Das mag realpolitisch zutreffen, doch die m. E. wichtigste Frage in diesem Zusammenhang wird in diesem Buch nicht ausreichend gestellt: Wie kann in einer zunehmend entsolidarisierten Gesellschaft eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-jährigen umgesetzt werden, deren oberstes Prinzip ja Solidarität ist? Wohl nur, wenn der Mittelschicht die Angst vor dieser Schulform genommen wird und dazu trägt dieses Buch leider nicht bei. Denn es befasst sich zwar eingehend mit dem Nutzen der Gesamtschule für die „bildungsfernen“ Gesellschaftsschichten, nicht aber mit den Vorteilen für die Mittelschicht – gibt es etwa keine?
Fairerweise muss hier gesagt werden, dass es ja der Anspruch des Buches ist, den „Bildungsfernen“ eine Stimme zu verleihen.
Die Autorin hat offenbar enorme Mengen an empirischen Daten gesammelt und ihren Thesen zugrunde gelegt. Wer die Bildungsdiskussion in Österreich in den letzten Jahren verfolgt hat, für den hält das Buch aber gerade deshalb viele „no-na“-Erlebnisse bereit. Zu viele Antworten verdecken oft die Sicht auf die richtigen Fragen. Darüber hinaus werde ich nach der Lektüre den Eindruck nicht los, dass die Polarisierung zwischen „bildungsnahen“ und „bildungsfernen“ Schichten das (österreichische) Problem nicht vollständig erfassen kann, auch wegen der Hinweise auf die Zustände in den Pariser Trabantenstädten oder Berliner Brennpunkt-Bezirken. Der weitgehend ländliche und kleinstädtische Lebensraum, sowie die behutsamere Sozialgesetzgebung in Österreich verhindern wohl, dass sich hierzulande ähnliche soziale Spannungen etablieren.
Ein Buch, das die Ist-Situation der Bildungsverlierer und die Motivlage einer gesamtschulverhindernden Mittelschicht ausführlich diskutiert, neue Aspekte aber weitgehend vermissen lässt.

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