Daniel Zipfel: „Die Wahrheit der anderen“. Rezension von Ambros Gruber

Das Österreich der 2010er-Jahre.

 

Eine Gruppe pakistanischer Flüchtlinge, deren Asylverfahren schon jahrelang in Schwebe ist, demonstriert nach dem polizeieinsatzbedingten Tod ihres Landsmannes Asif Khan mitten in Wien, auf dem Minoritenplatz.

 

Der Journalist Uwe Tinnermans – er arbeitet bei der großen Boulevardzeitung „Metro“ – berichtet von den Protesten der Asylwerber*innen. Ein Zufallsfoto von der jungen Pakistanerin Veena Shahida wird für ihn zum Startschuss einer Kolumne, in der er über die Protestbewegung berichtet, die bald vom Minoritenplatz in die Minoritenkirche übersiedelt.

 

Tinnermans bleibt nicht beim Berichten von Fakten, sondern erzählt seine Version der Ereignisse, schmückt Unspektakuläres aus, stilisiert Shahida zur Symbolfigur. Dadurch gefährdet er deren jahrelanges Asylverfahren, das ihre schwer krebskranke Anwältin Birgit Toth als ihren letzten Fall noch positiv zu Ende bringen will – mehr, um sich selbst zu beweisen, dass sie die Finten der Asylrechtsverfahren kennt und beherrscht, als um ihrer Mandantin zu helfen.

 

Konrad Brandt, alkoholsüchtiger Chefredakteur der Wiener Redaktion der Zeitung „Metro“, väterlicher Freund und Mentor von Tinnermans, kommt diesem auf die Schliche und wirft ihm seine frei erfundenen Passagen und seine Lenkung der Proteste vor. Diese Vorwürfe kontert Tinnermans gekonnt damit, dass er Brandt den Spiegel für dessen eigene journalistische Arbeit in den 1960er- und 1970er-Jahren vorhält.

 

Am Ende löst die Polizei den Protest auf, Veena Shahida wird nach Pakistan abgeschoben. Als der von seiner Zeitung geschasste Brandt sie dort besucht, hat sie keine Zeit, um auf seine Fragen zu antworten…

 

Der 1983 in Freiburg im Breisgau geborene Daniel Zipfel lebt und arbeitet in Wien. Als Jurist in der Asylrechtsberatung kennt er die „Amtsvorgänge“ des österreichischen Asylsystems genau, ebenso weiß er über die Strategien der zuständigen Ministerialstellen bestens Bescheid. Das macht sich zum Beispiel dann bemerkbar, wenn er die Figur des ministerialen Pressesprechers Spiegl beschreibt und diesen Herrn sprechen und denken lässt, aber nicht nur dort.

 

Überdies weiß der Autor, ein kritisch denkender Zeitgenosse, dessen Kommentare mir schon in österreichischen Tageszeitungen aufgefallen sind, dass ein Ereignis von verschiedenen Standpunkten aus wahrgenommen wird und die Erzählungen darüber – mehr oder weniger ausgeschmückt – sehr unterschiedlich sein können.

 

Ein Roman, den ich wärmstens weiterempfehlen kann, gerade deswegen, weil er kein Happy-End bietet, sondern uns als Gesellschaft, uns in Österreich den Spiegel vorhält, wie unser Asylsystem und unser Informationssystem funktionieren – oder eben gerade nicht! Ein Roman, der mehr als einen kritischen Blick auf unseren Rechtsstaat und unsere Medien erlaubt.

 

Ambros Gruber

 

Daniel Zipfel: „Die Wahrheit der anderen“.

 Kremayr & Scheriau,

Wien 2020

 

Quellen für die Fotos:

Daniel Zipfel: https://literaturoutdoors.com/2020/05/05/vielleicht-ist-die-groessere-herausforderung-jene-die-soziale-krise-solidarisch-zu-bewaeltigen-daniel-zipfel-schriftsteller-wien-5-5-2020/; 12.6.2020

 

Buch-Cover:

2D und 3D: https://www.kremayr-scheriau.at/bucher-e-books/titel/die-wahrheit-der-anderen/; 12.6.2020


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