Petra Bock: Der entstörte Mensch - Wie wir uns und die Welt verändern. Rezension von Ilse Seifried

Der entstörte Mensch, so der Buchtitel: Die Wortwahl irritiert. Zumindest mich. Ich rufe den Entstörungsdienst, wenn ich keinen Strom mehr habe (In so einem Fall wird von "Störung" gesprochen.) Es gibt Störungen im Bereich Strom (die Wärmepumpe funktioniert nicht mehr), Gas (ich nehme Gasgeruch wahr), Wasser, Fernwärme und Beleuchtung.

 

Im Zusammenhang mit Menschen gibt es das Wort „stören“ in dem Sinne von den ruhigen Fortgang hindern, belästigen, zerstören, auseinanderstreuen, zerstreuen, verwirren, vernichten, (ver)hindern, unterbrechen, anregen, aufrühren, rütteln.

Die beiden ursprünglich getrennten Verben (‘zerstreuen’ und ‘stochern’) sind in nhd. stören zusammengefallen. Das Wort entstören: störungsfrei machen gibt es erst seit dem 20. Jh. im Zusammenhang mit Technik.[1] Die Autorin schafft mit Der entstörte Mensch eine neue Kombination. Doch wozu? Was will sie damit sagen?

 

Wie wir uns und die Welt verändern. Ein Aussagesatz. Kein Rufzeichen. Kein Fragezeichen. Das macht neugierig.

 

Warum wir nach dem technischen jetzt den menschlichen Fortschritt brauchen, steht zuletzt am Cover. Damit führt sie ihren Anspruch, aus der Welt des „entweder oder“ in die Welt des „und“ eintreten zu wollen, ad absurdum! Es braucht dringend technischen Fortschritt, um die CO2 Emissionen zu reduzieren, die Mobilität umweltfreundlicher zu machen etc. wie den Fortschritt, mit den eigenen Emotionen adäquat umzugehen. Es braucht dringend beides.

 

Denn was ist menschlicher Fortschritt? Das Wort „menschlich“ wird allgemein in Situationen, wo eine Person einen Fehler machte oder Gefühle zeigt, verwendet.

 

Somit ist der Buchtitel mehrfach irritierend.

 

Dr. Petra Bock ist Historikerin und Politologin. Sie zählt zu den bedeutendsten Coaches in Deutschland und publizierte mehrere Bücher zum persönlichen Wandel. Mit dem aktuellen Buch hat sie eine gesellschaftliche Theorie dazu verfasst. Denn sie meint, einem blinden Fleck auf die Spur gekommen zu sein, schreibt sie in ihrer Einleitung. Auch meint sie: „Es ist die beste Zeit, die es jemals gab, um einen inneren Wan­del einzuleiten, der uns nicht nur zu besseren, sondern auch zu glücklicheren, erfüllten Menschen macht.“ Was macht sie dabei nicht anderes als bipolares Denken zu reproduzieren?

 

Die Autorin vertritt die Meinung, dass mit dem Klimawandel vor ca. 12000 Jahren, der zur Sesshaftwerdung begann, auch die „Störung“ begann. Damals war der „Überlebenscode“ wichtig und richtig, doch heute ist er von destruktiver Kraft. Die damals vollzogenen Gesellschaftsstrukturen (Ausbeutung anderer Menschen und der Natur) sind immer noch in allen relevanten Gesellschaftskulturen vorhanden. Damit geht auch das Denken einher, dass es entweder den Sieg gibt oder den Untergang, ein Schwarz-Weiß-Denken also.

 

Unsicherheit und Ängste sind in Bocks Meinung nach Ursachen für gestörtes Denken. Das weiß bereits die Redewendung: Angst ist kein guter Ratgeber. Angst hilft Risiken aufzuzeigen, als Entscheidungsgrundlage ist sie jedoch mehr als nur hinderlich. Ich frage mich an dieser Stelle, ob Menschen ihre Angstbewältigungsstrategien grundlegend verändert haben. Viele haben keinen Bezug mehr zur Natur und auch kein Interesse, woher ihr Chlorhuhn auf dem Teller kommt. Sie wollen nicht wissen.

 

Bock meint, die alten Strategien waren früher erfolgreich und uns dahin geführt, wo wir nun stehen. Bock beurteilt diese Strategien positiv. Ihre Verallgemeinerung und Bewertung enttäuschen. Sie blendet die Kolonialisierungsproblematik gänzlich aus. So bleiben jene unsichtbar, die den Preis bezahlten.

Mit der Sesshaftwerdung wurden, so Bock, die Bedürfnisse nach Sicherheit und Kontrolle größer als davor als Nomad*innen, die von Mut und Neugierde geprägt waren. Mit der Sesshaftwerdung wurden hierarchische Strukturen errichtet.

 

Sie bezeichnet ihre Erkenntnisse als das „Neues Wissen“. Doch dieses Wissen ist nicht neu. Millionen von Wissende wurden von jenen, die machgierig waren, zum Schweigen gebracht. Die Literatur der 1970iger Jahre thematisierte dieses massentauglich!

 

Die Autorin fokussiert in Richtung von Gemeinwohl mit allen Wesen und für sie bedeutet entstörtes Denken zum Beispiel fairer Handel, Reparaturwerkstätten u.v.a.m. Ihre Ziele von Konkurrenz zur Kooperation, vom Überleben zur Entfaltung sind nachvollziehbar. Sie wünscht sich, dass sich das Denkmuster, das Paradigma verändert und zu einem neuen Algorithmus gefunden wird, konstruktiven Netzwerken, von einem „Nicht-genug-bekommen-Können“ zu einem glücklichen Menschen zu werden. Um einen äußeren Wandel herbeizuführen, braucht es den inneren Wandel. Ihr teilweise undifferenziertes Formulieren schmälert jedoch den Wert ihres Buches, das einen großangelegten Systemwechsel propagiert.

 

Bock schließt ihr Buch mit den Worten:

Auch wenn wir selbst und die lange Reihe un­serer Vorfahren über alle Kulturen hinweg vieles falsch gemacht haben, können wir heute verstehen: Wir sind weder Bestien noch Maschinen, weder ein Auslaufmodell noch eine Katastrophe, we­der allmächtig noch ohnmächtig, sondern filigrane, hochintelli­gente und über die Maßen kreative Natur, die zu Bewusstsein gekommen ist und genau heute lernen möchte, weil sie lernen muss und das Lernen und Kreieren ihr ureigenes Element ist.

 

Jeder von uns ist auf seine Weise frei und kann jederzeit ein entstörter Mensch sein. Jeder von uns und wir alle können jeder­zeit damit beginnen, ein wichtiger, einzigartiger und unersetzlicher Teil der Entfaltung und Qualität allen Lebens zu sein in diesem aufregenden 21. Jahrhundert. Zusammen sind wir den Aufgaben gewachsen.

 

Wir können auf die andere Seite des Vor­hangs treten und auf der gleichen Welt die Luft einer neuen Zeit atmen, als seien wir die ersten Menschen am Beginn des Anthro­pozäns, des Zeitalters des entstörten Menschen, der Entfaltung von Leben und seiner Qualität im sich ausdehnenden Raum der Vivilisation.

Bock formuliert ihr Ziel klar aber den Buchuntertitel Wie wir uns und die Welt verändern dieses WIE das Einzelpersonen wie auch die Gesellschaft verändern kann, bleibt unbeantwortet.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Buch für Menschen geeignet ist, die sich bisher noch keine Gedanken machten.

 

Angeregt durch den Buchtitel formuliere ich meinen Abschlusssatz so: Es braucht Menschen, die dieses vorhandene hierarchische und ausbeutende System stören. Es braucht störende Menschen, die die gegenwärtigen Gemeinwohl-Störungen entstören! Und dafür gibt es viele friedliche Wege.

 

Petra Bock: Der entstörte Mensch - Wie wir uns und die Welt verändern.
311 Seiten, gebunden
€ 20,-

Droemer HC 2020
ISBN: 3426276917

 

Mai 2020

Ilse Seifried

https://www.i-m-seifried.at

 

[1] (siehe https://www.dwds.de/wb/entst%C3%B6ren).

 

 


Kommentar schreiben

Kommentare: 0